Wir! Also ich! Um genau zu sein. Ich hatte schon einmal eine ganz ähnliche Geschichte. Von wegen der Würde. Obwohl damals weniger Würde. Sondern mehr Yoga. Ich versuchte mich in […]
Wir! Also ich! Um genau zu sein. Ich hatte schon einmal eine ganz ähnliche Geschichte. Von wegen der Würde. Obwohl damals weniger Würde. Sondern mehr Yoga. Ich versuchte mich in Sachen Yoga. Was dann in die Hose ging. Im Sinne des Wortes. Also meine Würde verlies mich. Auf eher unkonventionellem Weg. Das wars dann. Mit der Geschichte. Und dem Yoga auch. Jetzt dreht sich ja die Welt im Kreise. Die Menschen darauf auch. Und die Geschichten quasi sowieso. Darum kommt es noch einmal. Das mit der Würde.
Es ist ja offiziös. Steht in gewissen Büchern. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Was immer das auch wirklich heissen mag. Weil angetastet wird ja immer. Tag ein, Tag aus. Meist im Kleinen. Abschätzige Bemerkungen. Anderen Menschen gegenüber. Zum Beispiel den Verkehrs regelnden Assistenzdienern am Central. Wenns wieder einmal nicht schnell genug. Und so. Dann wird angetastet. Von extern her. Intern aber auch. Also man sich selber. Man kratzt an der eigenen Würde. Bewusst, oder unbewusst. Bewusst tue ich es gerade einmal die Woche. Bei meiner Physiotherapeutin. Sie ist eine Frau. Und jung. Und fit. Also auch optisch. Ich bin ein alter Sack. Und relativ bis sehr. Sagen wir mal. Unfit. Und ein Mann. Darum ist es mir egal. Wenn ich in schlecht sitzenden Unterhosen neben ihr auf der Matte liege und versuche. Mit aller Inbrunst. Einen Rest von Würde zu bewahren. Während ich meine Übungen machen. Die sie mir vorgibt. Also zuerst dieses Bein und dann das andere Bein und dann halten. Und atmen. Atmen auch noch? Während ich verzweifelt versuche meine Unterhose und vor allem deren Inhalt irgendwie an seinem Platz zu halten. Während meine Beine irgendwo in der Gegend und atmen soll ich dann auch noch? Tief und ein und aus und regelmässig. Beim letzten Mal lies ich meine Blick schweifen. Nein, nicht wegen der Dame. Die hätte nackt neben mir liegen können. Nein, auf der Suche nach dem Standort des Defibrillators.
Das Spannende ist, dass mir in dieser Situation meine Würde am Hintern vorbei geht. Im Sinne des Wortes. Da bin ich realistisch genug. Ich schwör. Es ist wie es ist. Also war versuchen etwas zu zeigen, was man in der Situation nicht mehr zeigen kann.
Ich fahre Zug. Oft. Darum bin ich öfters am Bahnhof anzutreffen. Meist schon etwas früher. Um einen Kaffee zu trinken. Damit ich ansprechbar bin. Weil ohne Kaffee? Kein Ton. Und mürrischer Gesichtsausdruck. Ich habe mein Stammlokal am Bahnhof. Stammlokal heisst, ich trete durch den Eingang. Und der Barmann ruft schon zu seinem Barista “einmal Latte Macchiato und ein Glas Wasser und ein Gipfeli für da trinken”! Das heisst Stammbar für mich. Das schnappe ich mir dann und verzieh mich nach draussen. Weil Kaffee trinken und Leute beobachten. Das geht draussen besser als drinnen. Und normalerweise stehe ich dann einfach auf und gehe zu meinem Zug. Nur letztens. Letztens stimmte etwas nicht. Alles war irgendwie verrutscht. Also kleidungsmässig. Die Bar. Die Bar besteht aus Glas. Sich spiegelnden Glaswänden. Und die sind Schuld daran. Wegen der Würde. Weil am Abend vorher Physio. Übungen. Vor einem Glasspiegel. Und als ich mich umdrehte, um in der spiegelnden Glaswand die verrutschten Kleider….. Und dabei den Hosengürtel öffnete…… da muss ich gedanklich irgendwie beim Spiegel in der Physio….. und keine Würde. Die kam dann erst ganz langsam wieder. Nachdem die zwei älteren Damen auf der anderen Seite der für sie NICHT spiegelnden Glaswand aufgehört hatten zu kreischen……von wegen des vermeintlichen Exhibitionisten draussen.
Zum Glück wars meine Stammbar. Da ist mir meine Würde egal. Sonst gäbe es jetzt eine Neue.
Der Nachtwanderer ist freier Autor, Zürcher Fels in der alltäglichen Brandung, Szenebeobachter, diffundierender zwischen den Welten Bummler und moderner Geschichtenerzähler. Mit einer gewissen Sehnsucht nach Weite strickt er aus alltäglichen Erlebnissen und Beobachtungen kleine Kurzgeschichten. Mit feinem Humor, einer Prise Ironie und etwas Schalk, eröffnet sich deren versteckter Sinn manches mal erst beim wiederholten Lesen. Und nicht selten entdeckt man sich selbst in seinen Geschichten wieder.